DISPLACED MEMORIES

Erinnerungsräume

"Hier sind sie gegangen, im langsamen Zug, kommend aus allen Teilen Europas, dies ist der Horizont, den sie noch sahen, dies sind die Pappeln, dies die Wachtürme, mit den Sonnenreflexen im Fensterglas, dies ist die Tür, durch die sie gingen, in die Räume, die in grelles Licht getaucht waren und in denen es keine Duschen gab, sondern nur diese viereckigen Säulen aus Blech, dies sind die Grundmauern zwischen denen sie verendeten in der plötzlichen Dunkelheit, im Gas. Das aus den Löchern strömte. Und diese Worte, diese Erkenntnisse sagen nichts, erklären nichts. Nur Steinhaufen bleiben, vom Gras überwuchert. Asche bleibt in der Erde, von denen, die für nichts gestorben sind [...] Nichts ist übriggeblieben als die totale Sinnlosigkeit ihres Todes." (Peter Weiss) * Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden ist die Vergangenheit nicht mehr ohne weiteres verfügbar. Die Ereignisse entziehen sich dem unmittelbaren Zugriff. Nicht nur, weil sie gewaltsam und traumatisch gewesen sind, weil zwischen dem "System Lager" und der Welt ohne Lager kein gemeinsamer Bezugsrahmen hergestellt werden kann, weil die außerhalb des Lagers gültige Sprache, die Erfahrungen und Ereignisse nicht zu (er)fassen vermag: "Aber wir kamen gerade zurück", schreibt Robert Antelme, "wir brachten unsere Erinnerung mit, unsere noch ganz lebendige Erfahrung, und wir verspüren ein irrsinniges Verlangen, sie so auszusprechen, wie sie war. Und doch schien es uns vom ersten Tag an unmöglich, die uns bewußt gewordene Kluft zwischen der Sprache, über die wir verfügten, und jener Erfahrung, die wir größtenteils immer noch am eigenen Leib verspürten, auszufüllen. [...] Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns auch schon die Sprache. Was wir zu sagen hatten, begann uns nun selber unvorstellbar zu werden." Vergangenheit entzieht sich heute also nicht nur wegen dieser "Sprachlosigkeit" dem unmittelbaren Zugriff, sondern schlicht auch deshalb, weil viel Zeit zwischen den Ereignissen damals und dem Erinnern heute liegt. Leid, Erniedrigung und Tod schwinden allmählich – über sie legt sich ein ganzes weiteres gelebtes Leben, das als Folge, Umkehrung oder auch als Explikation des Schreckens und der Qual lesbar ist. Die Deportation, Haft und Befreiung erscheinen so in einem neuen Bedeutungszusammenhang, der weniger durch die Vergangenheit als durch die Gegenwart bestimmt wird. Erinnern gleicht dann oftmals einer qualvollen archäologischen Ausgrabung, bei der sorgfältig Zentimeter für Zentimeter die über die Zeit hinweg sich ablagernden (Lebens)Schichten abgetragen und auf ihre eigene Bedeutung und ihre Beziehung untereinander hin geprüft wird. Manches kann dabei gefunden werden, was längst vergessen worden war, manches bleibt für immer verloren und muss mit Wissen aus der Gegenwart versuchsweise ergänzt werden. Ein wohltemperiertes Erinnern allerdings ist nicht zu haben. Bei den noch lebenden Zeitzeugen nicht und nicht bei ihren Kindern und Enkeln. Wie aber sieht dieses Erinnern bei den Kindern und Kindeskindern, der so genannten zweiten und dritten Generation, aus? Denn ihnen fehlt selbst schon das vermittelte Erfahrungswissen. Sie müssen, wie der österreichische Autor Schindel schreibt, "den Tod [in sich] nicht mit irgendwelchen Strategien real überleben, diesen jüdischen Tod." Sie können die Vergangenheit nur aus zweiter Hand erfahren, sie sind auf die Erzählungen der Eltern, auf deren Gesten und Verhaltensweisen, auf Texte, Fotografien, Mahnmale und Gedenkstätten angewiesen. Ihre Erinnerung kann sich nur auf das beziehen, was andere in den unterschiedlichsten Medien aufgezeichnet haben. So sind ihre Texte, Installationen, Ausstellungen und Filme nicht Versuche, die Ereignisse an sich darzustellen, sondern sie zeugen davon, die eigenen, mehrfach vermittelten Erfahrungen im Erinnerungsvorgang selbst mit abzubilden. Und doch wäre es ein Irrtum zu glauben, dass diese Art des Erinnerns – "post-memory" nennt es Marianne Hirsch – aufgrund von Vermittlung und zeitlicher Ferne nicht ins Zentrum der Ereignisse treffen könnte. Fotografisches Erinnern – oder vom Widerstand gegen die Eindeutigkeit Lange Zeit hat die Erkenntnis, dass die Fakten der Geschichte nicht für sich selbst stehen, dass sie untrennbar sind von den Gründen, die sie in Erinnerung rufen, untrennbar auch von der Gegenwart und dem Rahmen, in dem sie sich befinden, die Zeugnisse zur Shoah nicht berührt. Gerade die Fotografie galt als das Medium, das es vermochte, ein realgetreues Abbild der Wirklichkeit zu liefern und Geschichte zu dokumentieren. Sie war Garant für eine Art Realpräsenz der Vergangenheit in der Gegenwart, des "Es-ist-so-gewesen" (Roland Barthes). Obwohl schon seit dem Auschwitz-Prozess deutlich geworden war, dass das zu einfach gedacht ist. Das kann man beispielsweise an dem Umgang mit den Fotografien des Auschwitz-Albums sehen, welche ja, beglaubigt von der Internationalen Vereinigung der Auschwitzer Häftlinge, gerade als Dokumente und authentisches Beweismaterial dienen sollten, keineswegs aber als solche nur gelesen wurden. Für die ungarische Jüdin Lili Jacob, die das Album 1945 in einer SS-Unterkunft gefunden hatte, erhielten die Fotografien den Wert von Familienerinnerungen. Das Album wurde ihr zu einem Familienalbum, in dem ihr bekannte und vertraute Gesichter abgebildet waren. Für die Richter und Staatsanwälte hingegen waren die Fotografien schwieriges, da von keinerlei Misshandlung zeugendes, Beweismaterial. Jahre später benutzte der französische Revisionist Robert Faurisson einige Fotografien, um die Vernichtung der europäischen Juden zu leugnen. Man kann an den verschiedenen Deutungen und Zuschreibungen – selbst bei solch einem Material – sehen, dass Sinn und Bedeutung nicht in den Bildern selbst zum Ausdruck kommt, sondern dass diese, je nach Betrachter und Betrachtungshorizont, ganz unterschiedlich, ja widersprüchlich in ihrer Aussage sein können. Diese Erkenntnis wird allerdings künstlerisch erst von der zweiten und dritten Generation in ihren Werken umgesetzt. So hat sich um die Dokumentarfotografie eine Ästhetik gebildet, die, ähnlich wie in der Literatur, die Vermitteltheit des Dargestellten, seine Konstruktion und Gemachtheit wie auch die Abhängigkeit der Bedeutung von dem Betrachtenden mitthematisiert. In der künstlerischen Auseiandersetzung mit der Shoa wird die Gegenwart und der eigene subjektive Zugang zur Vergangenheit mit eingeschrieben – Vergangenheit wird als Gegenwart neu gesehen und gelesen. Sie ist nicht abgeschlossen: sie reicht auf oft beklemmende Weise in die Gegenwart hinein und verändert dabei sich selbst und diese mit. Viele der Bildreihen und Installationen gerinnen zu einer Art Such-Bild, sind Aufforderung an den Betrachter, sie zu lesen, sie mit eigenem Wissen und Erfahrungen zu ergänzen, sich selbst zu ihnen und oft in ihnen zu positionieren. Gerade diese Widerständigkeit gegen Eindeutigkeit und Sinnhaftigkeit ist es auch, die charakteristisches Kennzeichen für Till Leesers Displaced Memories ist. Denn Displaced Memories rücken die Abwesenheit des Lebens und des vernichteten Lebens fotografisch ins Zentrum. Es ist eine solch extreme Abwesenheit des eigentlichen Geschehens, der Erniedrigung der Menschen, ihrer Entwürdigung und Ermordung, dass dem Betrachter Blicke abgefordert werden, die ansatzweise das Fehlende ergänzen. Nicht am abgebildeten Objekt, sondern in der Interferenz zwischen Bild und Betrachter bildet sich dann Erinnerung, indem der Blickende in die Leerstellen sich hineinziehen lässt und gleichzeitig in einer Art Gegenbewegung Wissensbestände in Form von anderen Bildern, Erzählungen, historischen Daten, Erfahrungen oder eigenen Erinnerungen aufruft und untereinander in Beziehung setzt. Das Gedächtnis ist nicht mehr Speicher, Behältnis oder gar gesicherter Aufbewahrungsort, es ist vielmehr ein immerzu veränderbarer Erinnerungsraum innerhalb der Subjekte. Im Versuch des Betrachters, den Blick durch innere "Gegenblicke" zu verorten, wird die zweidimensionale Bild-Fläche in die Dreidimensionalität gehoben, ihr eine "Erinnerungsschärfe" gegeben. Till Leesers Displaced Memories sind eine Erinnerungsarbeit, die auf einen bewussten Verzicht von Eindeutigkeit sich gründet – durch Unschärfe, Farben und Wahl der Objekte. Ausschnitte oder Fragmente von Mauern, Wänden, Decken, Böden, Gebäudekomplexen werden technisch überschrieben und verfremdet, so dass regelrecht eine Vieldeutigkeit erzwungen wird bis hin zu einer gewissen Orientierungslosigkeit. Die Fotografien sind unbequem, wollen gedeutet werden und lassen sich zugleich nicht dauerhaft deuten. So kommt der Betrachter nicht zur Ruhe – Vergangenheit wird nicht nur Gegenwart, sondern führt in die Zukunft, indem sie immer weiter gedacht sein will. Mit der Betrachtung der Fotografien werden wir zu einem historischen Gewissen aufgefordert, zu einem Bewusstsein, das um die eigene Verantwortung für die Geschichte und ihre Bildung weiß, das weiß, dass diese nicht tot und abgeschlossen bleibt, wenn sie immer erneut aus der Gegenwart heraus für die Zukunft gestaltet wird.

Dr.Ariane Eichenberg


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